Leseprobe
Ein bisschen was für Neugierige
Sie schmunzelte, als sie daran dachte, dass ihre Lieblingslackiererin Lotte ihr gesagt hatte, dass Mattlack etwas ganz furchtbar Schlimmes sei, weil es so unfertig aussähe. Doch sie bat Lotte ganz bewusst darum, auf den hochglänzenden Klarlack zu verzichten. Da half damals auch Lottes Beteuern nicht, dass diese Art von Lack viele Vorteile hätte …
Jäh schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Hatte da nicht jemand an der Straße gestanden? Der Blick in den Rückspiegel ließ etwas erkennen, was war das?
Die Bremse quietschte, als Frieda sie mit ihrem Fuß in das Bodenblech drückte. Hastig legte sie den Rückwärtsgang ein. Mit einem Arm über der Beifahrerlehne und die Augen auf den ungewissen Gegenstand gerichtet, setzte sie zügig zurück und hielt neben dem unbekannten Etwas. Mit ihrer linken Hand schnipste sie den Zigarettenstummel aus dem geöffneten Fenster und beugte sich zum Türgriff der Beifahrerseite hinüber. Ein leises Quietschen war zu hören, als die Tür sich öffnete. Auf dem Boden am Straßenrand stand ein Paar fein säuberlich nebeneinandergestellter roter Wildlederschuhe. Frieda war verwundert. Wer bitte stellte hier seine Schuhe hin? Auch noch so ordentlich und mit tadellos, ebenmäßig gebundenen Schleifen …
Der Unheimliche musste federleicht sein, denn trotz, dass er den Sack trug, sank er, im Gegensatz zu Frieda, nicht ein. Es wurde immer schwieriger, mit dem Wesen Schritt zu halten. Sie spürte, wie ihre spärlichen Kräfte schrumpften. Einzig der Gedanke, den Jungen zu retten, trieb sie, entgegen ihrer Angst, weiter voran.
Nach etwa fünfzehn weiteren Minuten blieb das Wesen vor einem riesigen, überwucherten Felsen stehen.
Flugs verbarg sich Frieda hinter dem Stamm einer umgestürzten Esche. Aus ihrem Versteck heraus beobachtete sie aufmerksam, dass das Wesen einige Äste des Gebüsches zur Seite bog und hindurchschritt.
Sie wartete drei Atemzüge, bevor sie vorsichtig auf die Stelle zu schlich. Angespannt ahmte sie das Wesen nach und schob die Zweige zur Seite. Vor ihr öffnete sich eine Höhle. Das grausame Kichern hallte ihr entgegen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und betrat leicht geduckt die breite Höhle. Der Boden war nass und obwohl sie sich bemühte kein Geräusch zu machen, platschte bei jedem Schritt das Wasser unter ihren Füßen. Die Wände waren glatt und schlierig mit Algen bewachsen.
Sie betete flüsternd, dass sie nicht entdeckt werden würde. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi.
Gut dreißig Schritte weiter öffnete sich die Kammer so weit, dass Frieda problemlos aufrecht stehen konnte. Das Tageslicht wurde weniger und der Boden trockener. Zweihundert Meter weiter, krümmte sich der bis dahin schlauchartige Gang nach links. Von dort strahlte ein flackerndes Licht in den Gang hinein und undeutliche Geräusche waren zu hören.
Frieda schwenkte die braune Flüssigkeit im hölzernen Becher. Ein letzter Schluck. Doch bevor sie diesen nehmen konnte, sah sie, dass eine zottelige Gestalt zügig auf sie zuging. Der Gang wirkte jedoch sehr schwerfällig, geradezu watschelnd. Je näher es kam, umso mehr konnte sie erkennen.
Es war ein kleines Männchen, so groß wie ein Kind von zehn Jahren, mit einer kurzen, zerschundenen, braunen Hose bekleidet, die knapp über die Knie reichte und von nur einem Hosenträger aus geflochtener Weide gehalten wurde. Der andere Hosenträger fehlte. Hier und da hingen lose Fransen heraus, kleinere Löcher und geflickte Stellen gaben der Hose ein abenteuerliches Aussehen. Ansonsten war das Männchen über und über mit langen, dunklen Haaren bedeckt. Insbesondere das Kopfhaar und der Bart waren zerzaust und standen in alle Richtungen ab, wobei einige rötliche Strähnchen zu erkennen waren. Selbst die Augenbrauen waren über den rot funkelnden, großen Augen zusammengewachsen. Nase und Mund ähnelten einer kleinen, kurzen Hundeschnauze. Die Ohrläppchen waren lang, und am linken trug es einen goldenen Ring.
„Moment“, krächzte es blechern. „Ehe ihr drei losgeht, soll ich euch noch einen Beutel mit einem Happen zu essen bringen.“
„Das ist aber nett“, freute sich Frieda und lächelte das haarige Männchen freudig an.
Als es ihr den blau gemusterten Beutel reichte, bemerkte Frieda, was für große Hände und Füße es hatte.
„Ja, ja“, winkte das Männchen ab und rollte mit seinen großen roten Augen, wobei Frieda jetzt die bemerkenswert eindrucksvollen, wolfsähnlichen Zähne sah. Just als das Männchen sich umdrehte, um wieder zu gehen, sprang Tosk vor ihn hin. „Also, mal also, wieder ganz die Freundlichkeit in Person“, pikste Tosk das Männchen.
„Lass ihn doch, Tosk“, mischte Frieda sich gleich ein.
Ein grummeliges „Hm“ entstob der Kehle des Männchens.
„Also, ach also, das kann solch ein Waldschrat schon ab, wenn man ihn ein wenig ärgert. Nicht wahr, Hilarius?“, stänkerte Tosk weiter.
„Ein Waldschrat bist du“, flüsterte Frieda leise zu sich selbst.
„Ja“, grummelte Hilarius sie an und setzte hinzu: „Und ich habe gute Ohren.“
„Entschuldigung, ich wollte nicht …“ Sie kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden, weil Hilarius sie mit einem unfreundlichen „Jaja, lass gut sein.“, unterbrach.
„Also, Hilarius, also so kannst du nicht mit Frieda umgehen“, mischte sich Tosk kühn und kraftvoll ein.
„Tosk.“ Bua legte ihre Hand beruhigend auf seine Schulter. „Du weißt doch, wie Waldschrate sind. Sie können nicht aus ihrer Haut, und unser geschätzter Hilarius hat halt eine ganz besonders Starke …“ Bua überlegte kurz, welches milde und beschwichtigende Wort passend wäre. „… Wesensart.“
Mit einem „Ach, wie auch immer“ winkte Hilarius ab und trottete seines Weges.
Frieda konnte sich ein heiteres Glucksen nicht verkneifen. Sie fand das alles so allerliebst.
„Was ist eigentlich ein Waldschrat?“, fragte sie.
„Ein Waldschrat ist ein Waldgeist. Sie sind Einzelgänger. Viel weiß man nicht über sie, da sie am liebsten ihre Ruhe vor allem und jedem haben wollen. Nur zu gewissen Bäumen haben sie eine starke Verbundenheit. Doch welche Baumart der Waldschrat bevorzugt, ist genauso unterschiedlich wie die unverkennlichen Persönlichkeiten der Waldschrate selbst. Was ich dir sicher sagen kann, ist, dass unser Hilarius ein ganz klassisch aussehender Waldschrat ist. Rau, zottelig und mit tierisch aussehender Note, durch seine Wolfszähne und die zusammengewachsenen Augenbrauen.“ Bua musste lachen. „Hilarius bedeutet der Heitere.“
Tosk brach in schallendes Gelächter aus. „Also, wirklich, also, das ist ja zu herrlich! Also, der Heitere also, passt ja wie die Faust aufs Auge zu unserem guten Waldschrat!“
Er hielt sich den kleinen, pelzigen Bauch, der durch das Lachen schnell auf und ab zu hüpfen begann.
Nachdem die drei Freunde sich der kurzen Ausgelassenheit hingegeben hatten, fragte Bua, ob sie sich auf den Weg machen wollten.
„Ja schon!“, sagte Frieda und versuchte dabei eine feste Stimme, doch man konnte heraushören, dass sie noch mit sich haderte.
„Nur bin ich mir nicht sicher, in welche Richtung wir gehen müssen“, fügte sie etwas kleinlaut hinzu. Man konnte ihr anmerken, dass sie sich schämte. Immerhin standen sie in den Startlöchern und jetzt so was! Warum hatte das Glühwürmchen nicht gesagt, wo sie anfangen sollen? Frieda zweifelte. Vielleicht wäre es besser, das Ganze sein zu lassen?
Ratlos stand die kleine Gruppe da und sah sich nach allen Seiten um.
Was sollt sie machen? Oder sollte sie einfach losgehen? Sicherlich würden die anderen folgen, aber wenn sie dann falsch ginge? Vielleicht gab es auch kein „Falsch“. Vielleicht wäre jede Richtung möglich?
Einige stille Atemzüge später knackte es nordöstlich von ihnen. Sie wandten sich dem überraschenden Geräusch zu. Am Rand der Lichtung stand ein stattlicher, großer Hirsch mit einem riesigen Geweih und blickte ihnen entgegen. Der Hirsch machte eine Kopfbewegung, die aussah, als würde er sie zu sich winken.
Verblüfft meinte Frieda: „Wir sollen ihm wohl folgen.“
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